Eröffnung der Atelierausstellung am Samstag, 06.12.97, 19.30 Uhr,
Janosch Vollrath - Bilder und Skulpturen
"Weitergehen, wo der Mutigste stehen
bleibt"
im Stuttgarter Atelier des Künstlers


Mein Damen und Herren, lieber Janosch Vollrath,

seit nunmehr 4 Jahren verfolge ich - allerdings mit großen zeitlichen Unterbrechungen, die künstlerische Entwicklung von Janosch Vollrath. Am 4. Dezember 1993, fast auf den Tag genau vor vier Jahren, hatte ich das Vergnügen, in der Stuttgarter Galerie ´Themo´ zum ersten Mal in sein malerisches Werk einführen zu können. Die Betonung liegt auf dem Begriff "Vergnügen". Es war mir eine Freude, diese heiteren, farbenfrohen, optimistisch stimmenden Bilder Vollraths zu beschreiben und zu deuten.
Vollrath ist zwischenzeitlich vorangeschritten, er hat an Reife zugenommen, aber er ist seinem damaligen Motto treu geblieben     "Hommage an das Leben" (Huldigung an das Leben'). Auch bei seinen neuesten Arbeiten, die wir heute sehen, sticht das strahlende Rot - Ocker ins Auge. Doch nun mischen sich auch dunklere Töne in seine Bildwelten, und ich meine, das ist gut so. Erst durch die Schattenseiten des Lebens wird uns seine leuchtende Fülle bewusst. Ganz seinem älteren, heiteren, ja lustigen' Stil noch verpflichtet ist das Ihnen, m.D.u.H., bereits von der Einladungskarte her bekannte Bild, das den ungewöhnlichen Titel trägt: "Weitergehen, wo der Mutigste stehen bleibt". Es hat Hochformat und ist  wie alle anderen Bilder hier in Acryl auf Leinwand gemalt. Dieser Titel könnte wie ein zweites Motto über
Vollraths gesamtes bisheriges Schaffen stehen. Weitergehen, Grenzen überschreiten, mutig zu immer neuen malerischen Dimensionen vorstoßen - das sind für mich augenfällige Motive seiner künstlerischen Arbeit. Mutig, ja kühn setzt Vollrath die fast unvermischten komplementären Grundfarben Blau - Gelb und Rotocker - Grün gegen – und ineinander und vereinigt sie zu einer furiosen  Kreiskomposition. Ob man will oder nicht, man wird als Betrachter in dieses dynamische Wirbelspiel förmlich hineingesogen und selbst gehörig herumgewirbelt. Aber es bleibt nicht bei dieser erheiternden Drehbewegung - ich erinnere hier an den Tanz und an das Karussell  - , nein, dieser Wirbel, in dem buchstäblich alles aus dem Lot kommt und herumgeschleudert wird, ist nur ein Mittel, um uns aus gewohnten
Zusammenhängen in höhere Sphären zu entführen. Dafür steht für mich das durchschimmernde
Weiß - Blau, in das hinein die Bewegung zu verlaufen scheint. Schon früher fiel mir eine synästhetische Komponente im Vollrath'schen Werk auf, will sagen: Einige Bilder wirken mit ihren Harmonien und Dissonanzen wie gemalte Musik. Auch bei diesem Bild hat die Musik Geburtshilfe geleistet. Nach einem klassischen Musikabend, mit einem Bläser - Ensemble in der Liederhalle gab es einige Zugaben. Plötzlich stürzte ein schwedischer Posaunist auf das Podium - doch lassen wir Vollrath selbst berichten, so wie er es mir bei unserer Vorbesprechung erzählt hat: TB 1. Wir sehen, es muss nicht Bach
oder Beethoven oder Brahms sein, der mit seinem Tonwerk zu einem Bildwerk anregt, sondern das kann auch ein expressiv improvisierender und agierender Posaunist leisten. (Sein Name ist übrigens Christian  Lindberg  - Vollrath möchte sich nicht mit fremden Federn schmücken!)

II

Vollrath ist ein abstrakter Künstler mit deutlich expressiven Zügen. Insofern gibt er dem Betrachter jene Freiheit der Phantasie und der möglichen Deutung, die ihn selbst beim Malen beflügelt haben mag. Er formuliert auf der Leinwand sehr subjektive, innere Bilder, die mit der Außenwirklichkeit nichts oder nur sehr wenig zu tun haben. Gelegentlich glauben wir gegenständliche Fragmente zu erkennen, doch verhelfen sie nicht zu einer Bilddeutung im herkömmlichen Sinne. Auch die Titel weisen nur vage die Richtung zum Verständnis seiner Bilder. Besser ist es, wenn wir uns offen und unvoreingenommen in seine Bild - Welten hineinbegeben und ihre Form - und Farbspiele auf uns einwirken lassen. Nur so kann sich etwas von den Ideen und Empfindungen auf uns übertragen, die den Maler beim Schöpfungsprozess erfüllt haben. Da sich inhaltlich - thematisch kaum Unterschiede in seinem aktuellen Oeuvre ausmachen lassen – alle hier versammelten Werke stammen mit 2 Ausnahmen von 1997-, unterscheide ich allein vom Augenschein her zwei Werkgruppen, nämlich eine mit eher ruhigen, weichen, teils organoid wirkenden Formulationen, und eine andere, in der eher bewegte, teils technoide Strukturen dominieren.

III

Ich beginne mit der ruhigen, teils organoiden Werkgruppe. Hier sticht zunächst das querformatige Bild mit dem Titel "Fenster" (1997) heraus, da es so ganz anders ist als die uns bekannten Vollrath - Bilder. Wir sehen eine fast monochrom - blaue Fläche, die nur durch Hell - Dunkel - Valeurs strukturiert ist. In der rechten Bildhälfte entsteht so ein gitterartiges Gebilde, in das auf hellerem Grund ein Fenster eingelassen ist, das in seiner Rahmung ein wenig Rot Ocker aufweist. Es wirkt wie ein letztes Lebenszeichen in dieser blauen Gitterwand. Doch auch dieses Fenster ist durch Querstäbe vergittert. Lediglich ein nackter Luftschacht im oberen Teil der Wand scheint eine schmale Verbindung mit der Außenwelt zu ermöglichen. Dieses Bild suggeriert Einengung, ja Gefängnis. Ich glaube in diesem düsteren Bild eine Chiffre für Eingeschlossenheit und Isolation zu erkennen. Das Bild "Lichtkörper" (1997) entwickelt sich zwar auch vor dunkelblauem Fond, doch dient dieser Hintergrund nur als notwendige Kontrastfläche für eine phantastische Lichterscheinung. Eine ockerfarbene Gestalt mit grünlicher Binnenzeichnung scheint einen ätherischen Lichtkörper im Arm zu halten, der von einem roten Kern über eine gelblich-weiße Aura in ein lichtes Himmelsblau übergeht. Von der Figuration geht eine monumentale Wirkung aus man ist an die Geburt eines Gottes erinnert, vielleicht des Lichtgottes Apollon, den die Leto, von Zeus geschwängert, auf der schwimmenden Insel Delos gebar? Eine merkwürdige Mondnacht entsteht in dem Bild "Mond über Ponte Tresa" (1997). Eine abstrakte Figuration mit Kreisformen und einer S-förmigen Kurvierung hebt sich diesmal vor einem ockerfarbenem Grund ab. Vollrath scheint ganz seinen subjektiven Empfindungen folgend die Farbwerte umzukehren: die Nacht als warme, lichte Hülle, der Mond dagegen als dunkler, blaugrüner Ball. Eine kreisende Spiralform und zwei sich verquickende Halbkreise deuten auf eine erotische Erinnerung hin. Ein farbig bestechend schönes Bild trägt  einen Ausspruch von Erich Kästner als Titel: "Wer nicht sieht, wird nicht gesehen" (1997). Blumen mit kreisrunden Blüten - oder sind es Augen? - stehen vor nachtblauem Grund. Jede scheint mit den anderen um den Preis der Schönheit zu konkurrieren. - Doch was nützt die größte Schönheit, wenn sie nicht wahrgenommen wird? - ist wohl die Frage dieses Bildes, das man als eine Metapher für die Notwendigkeit zwischenmenschlicher Wahrnehmung begreifen könnte.

IV

Wir wollen uns den Vorwurf der Ignoranz nicht machen lassen und werfen zwischendurch auch einen Blick auf die neueren plastischen Arbeiten von Vollrath. Er, der in seiner Malerei gern zu großflächigen Formaten greift, zwingt sich in der Plastik zu äußerster formaler Reduktion. Wie überschlanke, zerbrechliche Stelen recken sich diese übermannshohen Gebilde auf, und trotz ihrer Schmalheit gelingt es Vollrath, noch Hohlformen aus Ihrem abgemagerten Korpus auszusparen. Durch eine differenzierte und kontrastreiche Bemalung unterstreicht er zusätzlich die vertikale Aufwärtsbewegung. So erscheint die Plastik "Geburt einer neuen Idee II" (1996) wie ein zum Licht aufschießender Keimling oder Spross, der aber die ganze Kraft seiner Möglichkeiten in sich birgt und sich im nächsten Moment zu breitester Fülle entfalten kann. Bemerkenswert auch seine röhrenförmigen Kleinobjekte, denen eine verhaltene Monumentalität eigen ist. Sie wirken auf mich wie Modelle für raumgreifende und raumbeherrschende
Großplastiken.

V

Kehren wir zur Malerei zurück, und wenden wir uns der anderen Werkgruppe zu, in der ich mehr Dynamik und technoide  Strukturen sehe. In dem Bild "Das große Abenteuer" (1997)  könnte man ein Schaltpult erkennen, vielleicht das Schaltpult einer Raumkapsel? Immerhin spricht das rahmende Dunkelblau nicht dagegen,   kann es doch für die kalte Weltennacht stehen, durch die diese vor Energie rotglühende Kapsel fliegt. Auch der Titel lässt diese Deutung offen. Eindeutig ist der technoide Bezug bei dem nur in Blau - und Weißvaleurs gemalten Bild "Labyrinth" (1997). Das bedrohliche Ineinandergreifen von Rädern und Rädchen hinterlässt den Eindruck eines maschinellen Labyrinths, aus dem es kein Entrinnen gibt. Auch das Diptychon "Geteilte Verbindung" (1997)  evoziert technologische Assoziationen. Durch den Kunstgriff der vertikalen Trennung in zwei ungleich schmale Tafeln scheint aber der Maler diese Technologie in Frage zu stellen. Trotz der präzis anschließenden Farbfelder ist man geneigt, ein Zwischenbild zu entwerfen, das vielleicht ein ähnlich malmendes Räderwerk enthält wie das vorangehende Bild. Bei dem Bild "Ohne Titel" (100 x 80 cm, 1997) ist der technoide Charakter nicht zwingend,   aber die gleichmäßig gereihten, kleinteiligen Felder schließen ihn auch nicht aus. Von dem Bild geht eine eher freundliche Stimmung aus, und es erinnert mich an eine phantastische Bühnenarchitektur. Man könnte sich vorstellen, dass im nächsten Moment die Bühnenmaschinerie in
Gang gesetzt wird,  um mit einem heiteren Spiel zu beginnen. Die Verbindung von Spiel und Technik scheint mir auch das eigentliche Thema des Bildes mit dem englischen Titel "Hungry for life" (1997) zu sein. Ich assoziiere Jahrmarkt oder Reeperbahn mit riesigen Spiel- und Musikautomaten. Oberhaupt haben wir hier wie schon bei dem erstgenannten Bild der heutigen Ausstellung - in Form und Farbe gefasste Töne und Geräusche. Ich bin an die synästhetischen Forderungen der italienischen Futuristen um 1912 erinnert, die vom Maler ein "kreischendes Gelb", ein "schreiendes Ro-o-o-t" oder ein dumpfes Schwarz - Braun "wie ein Paukenschlag" verlangten. Aber dieses Bild entbehrt der futuristischen Aggressivität. Seine ungemein dynamischen, schwingenden Farbfelder in leuchtenden Primärfarben
stimmen heiter und optimistisch. Insofern ist eher ein Vergleich mit jener Spielart des Kubismus angebracht, für die der polnisch - französische Dichter Apollinaire die Bezeichnung "Orphismus" prägte (nach dem Sänger _Orpheus' der griechischen Mythologie), und die besonders im Werk von Robert Delaunay ihren malerischen Ausdruck fand. Nur Vollrath ist ein Maler unserer Zeit, seine Bilder sind komplizierter als die spontanen Farbharmonien eines Delaunay. Man spürt bei ihm, dass hier die tiefgehenden Bildformulationen des abstrakten Expressionismus reflektiert sind. Deshalb bin ich bei der Suche nach einer musikalischen Entsprechung für dieses Bild auf die expressiv – dissonanten
Klangwelten eines Francis Poulenc gestoßen und möchte Ihnen aus seinem 'Konzert für Orgel und Orchester' von 1947 einen Ausschnitt vorspielen: TB (2).

VI

M.D.u.H., wir haben einen kleinen Einblick genommen in die aktuelle Werkstatt von Janosch Vollrath. Ich habe Ihnen meine subjektiven Deutungen angeboten, Sie mögen zu ganz anderen kommen. Denn - und das ist ein ehernes  Gesetz der ästhetischen Wahrnehmung -: das Kunstwerk entsteht in jedem Bewusstsein neu. Aber in einem Punkt können wir uns vielleicht treffen: Janosch Vollrath ist ein mutiger Künstler, der immer wieder in neue Dimensionen aufbricht, um wie Paul Klee einmal sagte "das Unsichtbare sichtbar" zu machen. Ich wünsche ihm - und uns -, dass er noch lange "weitergeht", da, "wo der Mutigste stehen bleibt".

Prof. Dr. Albrecht Leuteritz
Tübingen