NEUE SPUR
von Anette Schmidt
Räume
und Wege tun sich mitunter unverhofft und plötzlich auf. "Ein höchst
verworrenes
Quartier, ein Straßennetz, das jahrelang von mir gemieden wurde,"
so Walter Benjamin, "ward mir mit einem Schlag übersichtlich, als eines
Tages ein
geliebter Mensch dort einzog." Neues, Unbekanntes wird mit einem mal von
Interesse.
Es zu erforschen bedeutet sich auf unsicheres Terrain zu begeben, einer inneren
Stimme nachzugehen, das was da kommt unvoreingenommen an sich herantreten zu
lassen.
Um sich zurechtzufinden, um neue Orientierungspunkte zu fixieren bedarf es
Neugier,
Mut und Umsicht. Schon findet sich ein Beispiel dessen in der Schilderung Levis
Carrolls, von Alices Abenteuern im Garten der sprechenden Blumen: "Ich will
zu ihr
hingehen und mich vorstellen', sagte Alice, denn so interessant es auch bei den
Blumen war: sich mit einer echten Königin zu unterhalten, fand sie, sei doch
noch weit
großartiger. Damit wirst du kein Glück haben', sagte die Rose; 'ich würde dir
schon eher
raten, in die umgekehrte Richtung zu gehen.' Das fand Alice unsinnig;
Sie sagte also nichts und begann auf die Schwarze Königin zuzugehen. Zu ihrer
Überraschung verlor sie aber ihr Ziel sogleich aus den Augen. [...] Etwas
gereizt trat sie
zurück und spähte überall nach der Königin aus. Schließlich entdeckte sie
sie in weiter
Feme und beschloss, es diesmal mit dem Ratschlag der Rose zu versuchen und in
die
entgegengesetzte Richtung zu gehen. Das glückte vortrefflich."
Kunst ist ein ebensolches Wagnis. Im Kunstwerk lässt sich der Weg des Künstlers
ins
Unbekannte verfolgen. Es wird zu einer Spur, die den Weg, den der Künstler
genommen hat, veranschaulicht.
In den Werken von Janosch Vollrath ist das Motiv der Spur
thematisch
allgegenwärtig. Ausgelöst durch das Erleben des Zusammenspiels von
Bewegung und Schnee entstand das Bild "Drei Spuren im Schnee", dem eine
Reihe von Werken folgte, in denen er sich mit der Spur als einem formgewordenen
und
also einem kunstgewordenen Prozess auseinandersetzt.
Im Gegensatz zu jenen kraftvollen, expressiv
leuchtenden Gemälden, die den
Betrachter in ihren energiegeladenen aber niemals willkürliche gestalteten
Strudel von
Formen und Farben hineinziehen, die durch Färb- und Formbrüche, an optische
Scharaden erinnernd, verwirren und Bezaubern, im Gegensatz zu diesen Bildern
sind
Werke wie die "Drei Spuren" nüchtern und leer. Abstrakte Formen wie
Linien, Punkte,
Farbkreise und Farbflächen bilden auch hier die formalen Grundelemente
Vollraths
bildnerischen Ausdrucksrepertoires.
Nun aber sind sie nicht mehr eingebettet in den
Zusammenhalt eines die Leinwand
ausfüllenden Farb- und Formgeflechts. Auf das Wesentlichste reduziert stehen
sie
alleine, gegeneinander und doch miteinander dem weißen Bildgrund gegenüber,
mit
dem sie auf diese Weise unweigerlich einen spannungsvollen Dialog eingehen.
Das bildnerische Geschehen konzentriert sich auf die Mitte der Leinwand. Es muss
trotz seiner Zusammensetzung aus verschiedenen Formen eine Einheit bilden, um
sich
gegen seine Umgebung zu behaupten, um nicht als belanglose Zusammenstellung
formaler Elemente unterzugehen.
Solche
Kompositionen verlangen dem Künstler ein hohes Maß an Form- und
Farbbewusstsein und einen ausgeprägten Blick für das Ganze ab. Sein Vertrauen
in
das eigene Können und die Intensität seines Kunstwollens muss so groß sein,
um den
Horror Vacui, die Angst vor der leeren Fläche zu überwinden, um eine erste,
alles
prägende, unrevidierbare Linie auf die Fläche zu setzen.
Doch auch jeder weitere Strich, jede Fläche, jeder Punkt und jede Farbe hat
Konsequenzen für das Zusammenwirken des Ganzen, denn nichts kann in diesen
filigranen Gebilden durch Übermalen oder Retuschieren ungeschehen oder rückgängig
gemacht werden. Der Prozess des Malens bedarf anhaltender Konzentration und
Umsicht, denn auch der Punkt der Vollendung des Werkes muss erkannt, darf nicht
überschritten werden.
Spuren im
Schnee gleich, zeugen Janosch Vollraths Werke von seiner
Auseinandersetzung mit Spannungsverhältnissen, Klängen, Elementen. Durch
die Leichtigkeit der Komposition und durch die Farben, vorwiegend Acryl und
Tusche, deren Leuchtkraft durch den weißen Untergrund noch gesteigert wird,
mögen sie, spielerisch und heiter, von jener Konzentration und Anstrengung
ablenken, die zu ihrer Schöpfung nötig war.
Das Motiv der Spur ist jedoch noch in einem weiteren Sinne für die heutige
Ausstellung
von Bedeutung. Denn die Spur führt weiter. Neben zentrumsorientierten
Kompositionen
finden sich einige Werke, in denen die scharfen Tusche- und Rötellinien gegen
weichere Pinsellinien ausgetauscht sind; in denen einzelne Notate den Rahmen der
weißen Fläche aufzubrechen versuchen, um die Komposition über den Bildrand
hinaus
der Phantasie des Betrachters zu überantworten.
Flächigkeit,
Farbe, Umraumbeziehung? Wohin diese neue Bewegung führt,
mag noch im Ungewissen liegen. Aber der Entwicklungsprozess geht stetig
weiter. Kunst die keinen erzählenden Motiven verpflichtet ist, konfrontiert den
Bertachter mit abstrakten Formen. Und auch im Jahre 2000, beinahe hundert
Jahre nach den ersten abstrakten Kunstwerken des 20. Jahrhunderts, etwa von
van der Velde, Kupka, Delaunay, Kandinsky oder Klee, stellt ein
entgegenständlichtes Bild eine Herausforderung an uns dar. Es gibt keine
Antworten, erzählt keine Geschichten. Aber es stellt Fragen, ruft Gefühle
hervor: Ablehnung etwa, Ärger, Irritieren, Sympathie, oder Begeisterung. Denn
es ist niemandem und nichts Verpflichtet außer sich selbst und - vielleicht-
seinem Gegenüber.
In der
abstrakten Kunst, in Werken wie denen
von Janosch Vollrath, können sich
jedem einzelnen Ideen und Gedanken offenbaren, die, neuen Wegen und Räumen
gleich, möglicherweise dazu veranlassen, altes aus einem neuen Blickwinkel
heraus
betrachten und beurteilen zu können.
Denn, wie Karl Kraus so treffend formuliert, "Kunst ist das, was Welt wird,
nicht das was
Welt ist." Eine neue Spur.
Annette Schmidt M.A. 24. November 2000